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Kolumne "Schmerz lass nach"

für das SZ Magazin

Seit mehr als 12 Jahren lebt Ulrike Pichl mit chronischen Kopfschmerzen und Migräneanfällen. Hinzu kommen weitere Einschränkungen durch hormonelle Faktoren. Schon immer hat sie sich Gedanken, Fortschritte und Ideen rund um ihre Schmerzen notiert – 2019 bekam sie dann die Gelegenheit, über ihren Alltag in einer Kolumne für das SZ-Magazin zu berichten.

Vorbereitungen und Gespräche

Nachdem das SZ Magazin Interesse am Thema Migräne bzw. chronischen Schmerzen bekundet hatte, schrieb Ulrike Pichl einen ersten Probetext. Dieser kam beim verantwortlichen Redaktuer direkt sehr gut an und so erstellte sie eine Liste mit möglichen Artikelthemen. Es sollte eine begrenzte Serie mit 10 Folgen werden. Die Themen waren sehr breit und doch sehr persönlich: Das Führen von Freundschaften, der Arbeitsalltag, Umgang mit Schmerzen und Medikamenten, eine Beziehung führen, Ängste, der Umgang mit Ärzten und die Schilderung einer starken Migräneattacke. 

Wöchentliches Erscheinen über 2,5 Monate

Änderungswünsche der Redaktion betrafen vor allem die Länge der Texte. Oftmals waren die Texte doppelt so lang wie die letztendlich veröffentlichten Fassungen. Dies war für sie der schwerste Part, denn Ulrike Pichl hing an jedem Satz. Trotzdem schaffte sie es immer, den Ton und die Grundaussage zu erhalten. Die Kolumne erschien in wöchentlichem Abstand über zweieinhalb Monate und kam bei den Leserinnen und Lesern sehr gut an. Sie erhielt viel direktes Feedback von ebenfalls Betroffenen und viele positive Kommentare in den Kommentarspalten der sozialen Medien – was sie natürlich freute, denn sie hatte sich gerade dort auf mehr Gegenwind eingestellt.
Screenshot der Kolumnen-Seite. Die Illustration wurde von der Illustratorin  Eleni Kalorkoti (@elenikalorkoti) im Auftrag des SZ Magazins erstellt.
Screenshot der Kolumnen-Seite. Die Illustration wurde von der Illustratorin Eleni Kalorkoti (@elenikalorkoti) im Auftrag des SZ Magazins erstellt.

Textbeispiel

Folge 3: Wenn der Kopf kurz vorm Zerspringen ist

Schilderung eines Migräneanfalls. Erschienen am 31. Juli 2019 unter https://sz-magazin.sueddeutsche.de/schmerz-lass-nach/migraene-anfall-attacke-87563
Es gibt die ruhigen, leisen Migräneanfälle, die um mich herumschleichen, sich auf den Magen legen, sanft den Nacken drücken, die Augen verschleiern, die Stirn mit Schlamm füllen und tagelang meine Hand halten. Sie sind nichts Halbes und nichts Ganzes. Es geht mir zu gut um nur zu liegen, aber zu schlecht um wirklich aktiv zu sein. Doch daran habe ich mich gewöhnt, und dieser Zustand ist mir sehr normal geworden.

Für eine bestimmte Art der Migräneanfälle hat sich in meinen Sprachgebrauch jedoch das Wort »Attacke« eingeschlichen, denn es charakterisiert exakt das, was sie sind: hart, unvermittelt, spitz, hinterhältig, ohne Chance zur Gegenwehr.

Die Attacken lassen keinen Millimeter Platz mehr für irgendetwas anderes. Sie kommen innerhalb von Minuten, ich habe sie sogar schon innerhalb von Sekunden erlebt, und sie besetzen mich gnadenlos. Sie wirken auf mich wie eine Eruption, ein Ausbruch, eine absolute Notwendigkeit meines Körpers mich genau jetzt von allem fernzuhalten. Ich kann nichts mehr tun als mich diesem Akt der Rebellion zu fügen. Jeder Muskel im Körper ist gespannt wie ein Bogen, manchmal so sehr, dass die Waden verkrampfen. Alles zieht, drückt, pocht, reißt, wimmert. Und wenn ich dann so in meinem Bett liege und aufgebe, die geballten Fäuste öffne, tief atme und denke »Dann komm, leg los, tu, was du tun musst«, dann ist es als öffnete ich eine Käfigtür und lasse die Bestien von der Leine. Es klingt übertrieben, es klingt dramatisch, aber eine ausgewachsene Migräneattacke ist immer genau das: übertrieben und dramatisch. Sie ist so lächerlich in ihrer Belagerung jeder Nervenzelle, jedes Körperteils, jedes Gedankens, dass man lachen möchte, würde dann nur nicht der Kiefer so unbarmherzig schmerzen.

Es ist, als hätte jemand ein Drehbuch geschrieben, der einfach kein Gespür dafür hat, wann es zu viel ist. Die Nackenwirbel schrauben sich in die Nerven, heißes Blut fließt den ganzen Kopf hinab, das Bett schwankt und ich muss die Augen schließen, das kleinste Geräusch ist ein Affront für die Bestie. Ich habe das Glück, nicht wie andere Betroffene dabei erbrechen zu müssen, aber mein Magen ist eine einzige Schaukel. Er schwappt träge hin und her, bis in den Hals, ich kann die Übelkeit noch in den Brauen spüren. Und der Kopf ist kurz vorm Zerspringen, eine enge, wunde, pulsierende Kugel aus Hitze, mit Augäpfeln, die nur noch ein dünner Faden vor dem Fall zurückhält. Zwei unerbittliche Daumen, die mit aller Kraft in die Schultern drücken, und die den Griff erst lösen, wenn – oh bitte lieber Gott – endlich irgendetwas wirkt, wenn doch nur endlich die Tabletten oder Spritzen wirken oder wenn der Anfall einfach ganz von selbst vorübergeht.

Zeit spielt in diesen Tagen überhaupt keine Rolle mehr: Die Stunden tropfen wie Regen vorüber, weil sie nichts füllt außer der Migräne, aber Sekunden dehnen sich unerträglich lange aus. Einzelheiten aus dem Alltag treiben am Rand des Bewusstseins vorbei, alles ein einziger Dämmerzustand, in dem dennoch an Schlaf nicht zu denken ist. Der einzige Gedanke, der scharf nach oben steigt, ist, dass es aufhören soll, dass es keine Sekunde länger zu ertragen ist.

Und ich bin dankbar, kein Gift im Haus zu haben, denn vielleicht würde ich es einfach trinken, um all dem ein Ende zu machen, um endlich aufhören zu können, zu sein. Außerhalb dieses Wunsches ist fast kein Denken erlaubt.

Nichts an Migräne stählt oder macht stärker, im Gegenteil. Man wird immer schwächer und durchlässiger.

Und wenn dann der größte Schmerz nachlässt und man wieder auftaucht, ist man wie benommen, die Gedanken fließen wieder im Raum umher, streifen die Wände, das Bettlacken, die Zimmerdecke. Blass und kraftlos nimmt man wahr, was in der Zwischenzeit geschehen ist und vielleicht kann man nun endlich auch ein bisschen Schlafen, mit einem erleichterten Lächeln im Gesicht, dem Ganzen endlich entkommen. Oder zumindest mit mattem Blick und müdem Geist einen Film ansehen, eine Kleinigkeit essen oder trinken, sich die Zeit im Internet vertreiben (und sehen, was die Anderen die letzten Stunden erlebt haben) und langsam dem Nebel entsteigen.

Doch manchmal nimmt die Attacke kein Ende, sie geht Tage (ich hatte schon einmal sieben am Stück). Durchbrochen werden kann dieser Kreislauf dann oft nur mit einer Kortison-Stoßtherapie, doch davon muss man erst einmal Kenntnis haben und auch einen
Arzt finden, der dem zustimmt. Früher, als ich gar nicht wusste, dass meine Zustände eine Migräne sind (denn Migräne ist doch nur ein bisschen Kopfschmerzen, Migräne täuschen Frauen vor, um keinen Sex haben zu müssen, Migräne haben nur viktorianische blasse Damen in Romanen der Bronte-Schwestern), waren wir häufig in der Notaufnahme, die Migräne kam oft am Wochenende und die dort eingesetzten Medikamente halfen nicht.

Migräne kann völlig unterschiedlich verlaufen, sie kann einmal jährlich auftreten oder zwanzigmal im Monat. Sie kann mal ganz leicht und mal sehr schwer sein, sie kann sich sogar ganz ohne Kopfschmerzen äußern (Kinder haben beispielsweise oft Migräne, die sich nur durch Magensymptome zeigt). Meine Migräne kann gänzlich anders sein als deine, denn während du noch arbeiten kannst, kann ich nicht einmal schlafen und umgekehrt.

Migräne kann ein allumfassender Angriff auf den eigenen Körper sein, die totale Vernichtung. Migräne kann sich äußern wie ein Schlaganfall (Sprachstörungen und Lähmungen), wie eine Grippe (manche bekommen Fieber), wie ein Magen-Darm-Virus (bohrende Kopfschmerzen mit Durchfall und Erbrechen), wie alles zusammen.

Und ist sie dann überstanden, wirkt die ganze Welt bizarr, als würde man gerade geboren, traut all dem Frieden nicht, muss sich erst wieder orientieren. Alles, was man davor getan hat und gleich wieder tun wird, erscheint unmöglich. Man müsste sich nun eigentlich viele Jahre erholen und langsam wieder ins Leben zurückfinden, aber dafür bleibt keine Zeit, denn die Arbeit, die Freunde, die Kinder, der Haushalt, der Partner, das Pflichtbewusstsein, warten bereits. Und so geht es weiter, bis das trübe Auge oder der pochende Nacken flüstern: »Hier bin ich«.
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